Interview mit dem CEO
«Unsere Regionalisierung ist ein Erfolgsmodell»
Paul Hälg, Präsident des Verwaltungsrats, und Thomas Hasler, Vorsitzender der Konzernleitung, erklären im Interview, weshalb Sika auch in einem herausfordernden Umfeld kräftig wächst und weshalb sie vom Netto-Null-Ziel zusätzliche Wachstumsimpulse erwarten.
COVID, Ukraine-Krieg, instabile Lieferketten und Energiekrise: Was auch immer die Wirtschaftsentwicklung bedroht − Sika wächst. Warum gelingt es Ihnen, auch in einem so garstigen Umfeld zu wachsen?
Thomas Hasler Wir sind mit Niederlassungen in 101 Ländern und unseren acht Target Markets sehr breit aufgestellt. Es kommt praktisch nie vor, dass sich alle Märkte gleichförmig entwickeln. Auch innerhalb dieser Märkte sind wir gut diversifiziert. Im Bausektor erzielen wir zum Beispiel rund 45 Prozent unseres Umsatzes im Neubau und 55 Prozent mit Renovierungs- und Unterhaltsprojekten.
Eine breite Diversifikation schützt aber nicht unbedingt vor überraschenden und globalen Entwicklungen wie der Coronavirus-Pandemie …
Hasler Einen garantierten Schutz gibt es nicht, aber Sika hat viel Know-how im Umgang mit kurzfristigen Veränderungen erworben und schafft es immer wieder, auch in einem schwierigen Umfeld Chancen zu identifizieren und sie gezielt zu nutzen. So haben wir 2020 schon zu Beginn der COVID-19-Pandemie den Distributionskanal und E-Commerce ausgebaut. Dies hat zwar zu Verschiebungen zwischen den Absatzkanälen geführt, nicht aber zu Umsatzeinbrüchen. Der durch die Pandemie ausgelöste Digitalisierungsschub wirkt sich bis heute positiv aus.
Hat Sika von den Unterbrüchen der weltweiten Lieferketten vielleicht sogar profitiert?
Hasler Ja, unsere starke Regionalisierung ist ein Erfolgsmodell. Sie hat uns und unseren Kunden in den schwierigen Beschaffungs- und Versorgungsphasen sehr geholfen. Wir waren in der Lage, unsere eigenen Lieferketten zu nutzen und globale Unterbrüche oder Störungen zu überbrücken.
Wie schafft es Sika, die EBIT-Margen auch bei hohem Umsatzwachstum zu halten?
PAUL HÄLG Dank der lokalen Verantwortung über die Gewinn- und Verlustrechnung denken und handeln die Manager wie Unternehmer und achten sehr darauf, dass sie möglichst profitabel wachsen. Konsequenterweise sind sie auch für die Erarbeitung der lokalen Strategie verantwortlich. Sie entscheiden in Absprache mit der Konzernleitung über die Target Markets, die sie bearbeiten wollen, und über die Investitionspolitik.
Wie macht man Manager zu Unternehmern?
HASLER Wir binden die General Manager in unsere «Best Demonstrated Practice» ein. Typische Themen sind das Pricing oder die Nachhaltigkeit. Die Manager erhalten eine Art Kochbuch, doch was und wie gekocht wird, entscheiden sie selber. Dabei legen wir sehr grossen Wert darauf, dass sie ihre «Rezepte » und Erfahrungen untereinander austauschen. Zu diesem Zweck laden wir sie regelmässig zu Management Meetings ein, an denen «Peer-to-peer learnings» stattfinden.
Wie hoch ist die Fluktuation unter den 100 General Manager?
HASLER Sie bleiben im Durchschnitt knapp fünf Jahre auf ihrer Position. Die meisten Wechsel erfolgen innerhalb der Gruppe, indem General Manager von kleineren Märkten die Verantwortung für grössere Märkte übernehmen.
HÄLG Wenn Manager Sika verlassen, liegt der Grund meistens in der Unvereinbarkeit mit unserer Performance-Orientierung. Wir stellen den Managern jeden Monat eine Rangliste zu, die die Länder nach Umsatz und EBIT-Wachstum ordnet. Dieser Rangierungsprozess ermöglicht einen gewissen Grad an gesundem Wettbewerb.
Wie erhalten oder stärken Sie die hohe Preisfestsetzungsmacht von Sika?
Hasler Unsere Preise korrelieren mit den Werten, die wir den Kunden über das Produkt hinaus verschaffen. Solche Werte sind beispielsweise die rasche Verfügbarkeit der Ware, die hohe Verlässlichkeit und technische Expertise unserer Organisation. Zudem hilft die Netto-Null-Verpflichtung beim Pricing sehr.
HÄLG Ein Grossteil unserer Produkte ist systemkritisch. Nehmen Sie das Beispiel von Betonzusatzmitteln, die es ermöglichen, dass der Beton beim Bau eines Hochhauses auf eine Höhe von 100 Metern gepumpt werden kann. Gemessen an den Qualitätsvorteilen sowie den Zeit- und Kosteneinsparungen unserer Produkte ist der Preis kein entscheidender Faktor. In der Autoindustrie, um ein weiteres Beispiel zu nennen, verwenden die Hersteller einen Sika Klebstoff, der wesentlich schneller aushärtet als herkömmliche Produkte. Damit lässt sich in der Fertigung Zeit einsparen, was die jährliche Produktivität messbar steigert. Der Mehrpreis für den besseren Klebstoff ist vernachlässigbar.
Wie wirkt sich die Marke Sika auf das Pricing aus?
HASLER Der Einfluss der Marke auf die Preisfestsetzung ist erheblich. Sika ist in unserer Industrie weltweit der stärkste lokale Brand. «Building Trust» ist ein Versprechen, das wir Tag für Tag einlösen. Zudem hat sich die Wichtigkeit des Brands in den letzten Jahren deutlich erhöht und wird weiter an Bedeutung gewinnen. Dies beobachten wir sowohl beim organischen Wachstum als auch insbesondere bei Akquisitionen. Dank der Stärke der Marke Sika lässt sich unsere Technologie problemlos von einem Land zu einem anderen transferieren.
Die Sika Aktie hat sich 2022 nach fulminanten Kurssteigerungen in den Vorjahren schwächer entwickelt als der SMI-Index. Wie erklären Sie sich dies?
HÄLG Wir kommentieren den Aktienkurs nicht und können nur festhalten, dass wir gemäss unserer Strategie geliefert haben. Es müssen also andere Faktoren sein, die die Bewertung beeinflussen. Dabei spielen die Zinsen und Zinserwartungen zweifellos eine wichtige Rolle. Wachstumstitel wie die Sika Aktie reagieren auf Zinserhöhungen der Notenbanken meistens sensibler als Substanztitel.
Aufgrund der Prüfung diverser Wettbewerbsbehörden hat sich das Closing der MBCC Group etwas verzögert und wird im ersten Halbjahr 2023 erfolgen. Was bedeutet dies für die Mitarbeitenden und die Kunden der MBCC Group?
Hälg Für die Mitarbeitenden und die Kunden ist im Oktober 2022 eine zwölfmonatige Phase der Ungewissheit zu Ende gegangen. Seither haben wir Klarheit darüber, welche Aktivitäten integriert und welche Unternehmen oder Unternehmensteile veräussert werden. Die Mitarbeitenden sind verständnisvoll und positiv gestimmt, zeigen aber eine gewisse Ungeduld, sie möchten endlich loslegen.
Hasler In den MBCC-Unternehmen mit grösseren Überschneidungen zu Sika bestand durchaus die Befürchtung, dass redundante Strukturen abgebaut werden müssen. Mit dem Verkauf dieser Unternehmen oder Unternehmensteile fällt diese Sorge weg. Die Leute wissen, dass sie unter einem neuen Eigentümer gebraucht werden und dort eine Zukunft haben.
Hälg Man darf festhalten, dass unsere Akquisitionen immer Wachstumsplattformen sind. Sie bieten den Mitarbeitenden neue Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Sika ist für ihre Wachstumsstrategie auf qualifizierte Mitarbeitende und junge Talente angewiesen. Akquisitionen führen dazu, dass sich der Talentpool erweitert.
Werden sich die ursprünglich erwarteten Synergien reduzieren, weil Sika Unternehmen oder Unternehmensteile der MBCC im Wert von rund CHF 920 Millionen verkaufen muss?
Hasler Nein, wir rechnen nach wie vor mit Synergien in Höhe von CHF 160 bis 180 Millionen.
Wie hat sich die ESG-Performance von Sika entwickelt?
hälg Die Sensibilisierung für ESG-Themen hat 2022 nochmals zugenommen, und die Umsetzung hat sich deutlich beschleunigt. Sika engagiert sich seit mehr als zehn Jahren sehr stark für ESG-Ziele. Unsere Innovationen sind geprägt von unserer Nachhaltigkeitsstrategie und von unserer Netto-Null-Verpflichtung. Der hohe Stellenwert der ESG-Themen wird von der ganzen Organisation unterstützt. Sustainability ist nicht nur für Kunden und Investoren relevant, sondern auch für unsere Mitarbeitenden. Wir sind sicher, dass wir uns einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, wenn wir mit der Nachhaltigkeit unserer Produkte First Mover sind. Vor allem bei jüngeren Mitarbeitenden steigert das Commitment auch unsere Attraktivität als Arbeitgeber.
Hasler Die Zusammenlegung von Sustainability und Innovation hat sich als wichtiger und richtiger Schritt erwiesen. Für Sika sind Sustainability und Innovation praktisch Synonyme. Wir verfolgen einen Weg, der sehr Sika-like ist, das heisst mit praktikablen und messbaren Ansätzen. Unsere Produkte, die die Klinkerreduktion ermöglichen, verkleinern den CO2-Fussabdruck ebenso wie die umfangreichen Massnahmen in unserer Produktion. Diese umfassen beispielsweise die Ausweitung der Nutzung erneuerbarer Energien und die Reduktion des Wasserverbrauchs.
Sika hat sich im September 2022 zur Erreichung der Science Based Target Initiative (SBTi) Netto-Null-Ziel verpflichtet. Was bedeutet das für die Organisation?
HaslerDas Commitment unterstreicht unser Ziel, die Transformation des Bausektors und der verarbeitenden Industrie zum Netto-Null-Ziel voranzutreiben. Wir haben nun bis 2024 Zeit, unser Ziel mit Massnahmenplänen und einer Roadmap zu konkretisieren und zur Validierung einzureichen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck.
hälg Diese Entwicklung wird auf Verwaltungsratsebene durch das neu etablierte Sustainability Committee begleitet und unterstützt.
Welches sind die wirksamsten Stellhebel zur Beeinflussung der SBTi-Ziele?
Hälg 98 Prozent unseres CO2-Fussabdrucks entfallen auf Scope 3. Etwa die Hälfte davon entsteht vorgelagert (upstream), das heisst durch Rohmaterialien. An den Rohmaterialien ist der eingekaufte Zement mit rund der Hälfte der CO2-Emissionen beteiligt. Hier haben wir den wirksamsten Stellhebel, denn Lösungen zur Verringerung des Zementverbrauchs sind eine Kernkompetenz von uns. Wir entwickeln beispielsweise Additive und Betonzusatzmittel, um die Verwendung von Zementersatzstoffen bei der Herstellung von Zement, Beton und Mörtel zu ermöglichen. Darüber hinaus ist Sika das führende Unternehmen für faserverstärkte Betonlösungen. Faserbeton erhöht die Haltbarkeit und Festigkeit von Beton. Die dazu benötigten Polymere beziehen wir von der chemischen Industrie, mit der wir auch Partnerschaften eingegangen sind, zum Beispiel «Together for Sustainability» (TfS). Bis jedoch CO2-neutrale Substitute für die heute verwendeten Polymere vorliegen, dürfte es noch länger dauern.
HaslerDabei dürfen wir die beträchtlichen Enabling-Effekte von Sika Produkten nicht aus den Augen verlieren. Diese positiven Effekte, die aus der Anwendung der Produkte resultieren, werden derzeit durch die SBTi noch nicht erfasst.
Welchen Stellenwert hat die Kreislaufwirtschaft?
Hasler Hier sehen wir ein enormes Potenzial. Wir stehen zwar erst am Anfang dieser Prozesse und sammeln Erfahrungen. So nehmen wir Membranen, die auf Dächern verbaut wurden, zurück und bereiten sie für den Bau neuer Dächer auf.
hälg Die Kreislaufwirtschaft ist ein wichtiger Hebel, um Fortschritte im Rahmen der SBTi erzielen zu können. Je höher der Anteil des Materials, das sich rezyklieren lässt, umso stärker können wir unseren Footprint verkleinern.
Welche Beispiele haben Sie vor Augen, wenn Sie von der Verkleinerung des Fussabdrucks im Bausektor sprechen?
Hasler Ein Leuchtturmprojekt ist sicher der Quay Quarter Tower in Sydney. Das Hochhaus mit Baujahr 1976 war in die Jahre gekommen und wäre im Normalfall abgerissen und durch einen Neubau ersetzt worden. Stattdessen hat man den Gebäudekern zu 95 Prozent stehen lassen und eine tiefgreifende Restrukturierung mit einer Erweiterung der Flächen durchgeführt. Sika ermöglichte das zweite Leben der Betonstruktur und trug dazu bei, dass über 12'000 Tonnen CO2-Emissionen vermieden wurden.
Ein Grossteil des starken Wachstums in der Region Americas ist auf Infrastrukturprojekte in den USA zurückzuführen. In welchen Bereichen hat Sika die besten Wachstumschancen?
hälg In den USA fallen vor allem Investitionen in den Unterhalt und in Erneuerungen von Baustrukturen ins Gewicht. Solche Projekte sind sehr herausfordernd, da sie meistens bei laufendem Betrieb oder mit möglichst kurzen Betriebsunterbrüchen realisiert werden müssen.
An welches Beispiel denken Sie?
Hasler Beispielsweise an eine Flughafenpiste, die für die Sanierung nur in der Nacht gesperrt werden kann. Der neu gegossene Betonbelag muss also innerhalb weniger Stunden aushärten, was nur mit hochleistungsfähigen Bauchemieprodukten gelingt.
hälg Ein anderes Beispiel ist die Sanierung von Brücken. Ob eine Brücke für vier Wochen oder vier Monate gesperrt werden muss, macht bei den volkswirtschaftlichen Kosten einen enormen Unterschied. Da fallen etwas höheren Preise für unsere Produkte kaum ins Gewicht, ihr Nutzen überwiegt klar.
Die Europäische Union will ab 2035 praktisch nur noch Elektrofahrzeuge zulassen. Wie bereitet sich Sika auf diese Entwicklung vor und welche Ziele verfolgt das Unternehmen in diesem Marktsegment?
Hasler Die Elektrifizierung der Fahrzeugindustrie entwickelt sich sehr dynamisch und die fortlaufende Optimierung der Batterien beschleunigt unser Wachstum. Was oft ein bisschen vergessen geht, ist der CO2-Footprint der anderen Fahrzeugkomponenten. Verschiedene Automobilhersteller haben ein Netto-Null-Ziel definiert. Dies bedingt, dass die Fahrzeuge rezyklierbar sind und dass der Scope-3-Anteil gesenkt werden muss. Wir tragen mit unseren Lösungen dazu bei, dass ein Fahrzeug an seinem Lebensende zu 95 Prozent rezykliert werden kann. Als Spezialist für Prozessmaterialien und mit unserer Expertise beim Kleben, Dichten, Dämpfen oder Verstärken sind wir der prädestinierte Partner, um die Automobilindustrie bei diesem Wandel zu begleiten und zu unterstützen.
Der weltweite Bestand von rund 1.5 Milliarden Fahrzeugen verfügt noch grösstenteils über Verbrennungsmotoren. Wie wird dieser Markt von Sika bearbeitet?
HASLER Unser Fokus liegt klar auf der Herstellung von Neuwagen. Diese müssen wie erwähnt zu 95 Prozent rezyklierbar sein, jedoch ohne Abstriche bei der Sicherheit, dem Komfort oder der Zuverlässigkeit. Diese Herausforderungen bieten einem spezialisierten Anbieter wie Sika hohe Wachstumschancen. Das Potenzial für Sika Lösungen liegt bei den Elektrofahrzeugen übrigens 50% höher als bei den Verbrennern.
Welche Umsatzentwicklung erwarten Sie unter Einschluss der MBCC Group in den nächsten zwei bis drei Jahren?
HASLER Wir streben mittelfristig einen Umsatz von CHF 15 Milliarden an. Im laufenden Jahr werden wir die Strategie 2024-2028 erarbeiten und vorstellen. Sie wird auch eine Guidance zur Profitabilität enthalten. Ebenso wird die Frage beantwortet werden müssen, ob das bisher auf CHF 80 bis 100 Milliarden bezifferte Marktpotenzial für Sika durch die Erschliessung neuer Märkte erhöht werden kann. Mit einem Marktanteil von 10 Prozent hat Sika jedenfalls noch ein hohes unausgeschöpftes Potenzial.
Welches sind die grössten Herausforderungen, mit denen Sie im laufenden Jahr rechnen?
Hälg Die grösste Herausforderung ist die Umsetzung unserer Strategie in einer multipolaren Welt, die immer häufiger zu nationalen Interessenskonflikten führt. Der Trend zur Bildung von Blöcken bewirkt, dass die grossen globalen Themen wie Globalisierung, Klimaschutz oder Sicherheitspolitik unterschiedlich reguliert und priorisiert werden. In einem solchen Kontext sind eine umsichtige, unabhängige Strategie und unternehmerische Fitness.